Auszug aus: „Die Frau, die in den Boden sang“
Annelie Andre, Februar 2021
Textausschnitte, die im Rahmen der Recherche „of bodies and grounds“ entstanden sind.
1
Wie Schichten sich lagern, verdichten, verbinden, so schichtet sich Leben über sie.
Ein Konglomerat aus Vergangenem, Jetzigem und Zukunft. Darüber kann sie allerdings nur nachdenken, es führt zu nichts. Aus dem sandigen Waldweg ihrer Kindheit wurde eine Schnellbahn aus Beton. Die Blaubeeren, die ihren Weg säumten, sind nunmehr vergessen, verblichen, irgendwo anders, sie weiß es nicht.
Und doch sind sie da, in ihrem Auge, wenn sie das Blau in den Kleidern ihrer Töchter, das dumpfe Grün in anderen Gesichtern sieht. In Augen, Mündern, Ohren verewigt ist Schicht um Schicht, ist Kiesel um Kiesel, ist Bruch um Bruch.
Die Risse der Zeit ziehen tiefe Furchen durch Luft und Knochen, lassen Wunden platzen und Habichte lallen. Verquer ist die Welt, wenn man sie mit glasigen Augen, um das zehnfache geweitet, betrachtet. Verloren sind Gedanken, die all zu oft nur dem Vergangenen Zuspruch erteilten.
Besonders in langen Nebelnächten legen sich dumpfe Schreie der Elstern um ihren Hals. Sie schmücken ihn und bestärken doch ihre Besorgnis. Was gestern war ist doch längst fort und trotzdem greifen die langen Arme immer wieder allzu gezielt nach ihr. Verbergen kann sich jede Schicht, doch verschwinden kann sie nie.
2
Die nackten Zehen der Frau suchen den Boden, als betrete sie ihn zum ersten Mal. Und doch lief sie schon tausende Male den selben Pfad. Im Mantel ihrer kindlichen Neugier versteckt sich ein altes Herz. Sachte und bedacht, immer weiter, immer vorwärts, zugleich ohne Ziel.
Wenn sie nur bleiben könnte, denkt sie. Ach wenn sie nur bleiben könnte.
Zu oft hat sie sich an den Steinen gestoßen, die zuerst bekannt und dann ganz anders erschienen. So fremd und gefährlich. Obgleich sie ihre Füße anzogen wie Magnete und von vergangenen Geschichten erzählten, kam immer kurz darauf der Schmerz. Ein Schmerz, der ihre Haut ebenso überraschte wie sie selbst. Sie zog sich zusammen, immer dann. Wund und lustvoll. Die Haut, die Frau.
3
Dort unten an der Flussmündung hebt das Wasser dem Kiesel den Boden weg. Eine Wucht, die der schweren Ruhe des Abends nur mühsam entgegen tritt. Menschenbeine haben sich entfernt, bis dahin, nur noch die Möwen singen ihr Lied. Oder sie krächzen jubelnd zur Dämmerung hin. Ein Windzug haucht über Flächen, streichelt über Gefels. Des Echos Erinnerung weilt in den Gräsern, bis sie morgen aus ihrer Starre erwachen und sich wiegen in freudiger Manier.